Aufgeschreckt

Aufgeschreckt

DAS GP JOULE-MAGAZIN NR. 13 / NOVEMBER 2022

Es kann niemand sagen, es hätte keine Weckrufe gegeben. Seit vielen Jahren schlagen Umweltorganisationen, Erneuerbare-Energien-Verbände und andere Fachleute Alarm. Doch Deutschlands Wärmesektor gleicht einem schlafenden Riesen. Heizen, Kühlen und warmes Wasser machten 2021 zusammen 58 Prozent des End- energieverbrauchs in Deutschland aus. Davon stammten weniger als 16 Prozent aus erneuerbaren Quellen.

Ab und zu erhielt der schlafende Riese einen kleinen Stupser. Zum Beispiel mit Zuschüssen für den Einbau von Sonnenkollektoren über das Marktanreizprogramm oder die Bundesförderung für effiziente Gebäude. Oder in Form des Erneuerbare- Energien-Wärmegesetzes (EEWärmeG), das seit 2009 in neuen Häusern einen Mindestanteil von Ökowärme fordert. Doch die Anforderungen waren bescheiden, die Ausnahmen zahlreich. Gleichzeitig sangen fossile Energieunternehmen und Heiztechnikhersteller ihre Schlummerlieder und der Riese schnarchte weiter. Schon damals war aus Sicht der Klimawissenschaft klar erkennbar, dass eine Abkehr vom Gas nötig werden würde. Dass sie möglich gewesen wäre, zeigt das Beispiel Dänemark. Dort verbot man ab 2013 schrittweise Öl- und Gasheizungen. Die Bundesregierung zahlte hingegen noch bis in den Sommer 2022 hinein Zuschüsse für die angeblich moderne Erdgas-Brennwerttechnik – eine Technologie aus dem vorigen Jahrtausend. Wer eine neue Erdgasheizung kaufte, wiegte sich meist in der Sicherheit, auf einen sauberen und sicheren Energieträger gesetzt zu haben. Auch der internationale Gasmarkt stützte diesen Glauben. 

Der Preisanstieg Anfang der 2000er Jahre verkehrte sich ins Gegenteil, als die USA in den 2010er Jahren große Erdgasmengen aus Frackingprojekten auf den Markt brachten. Erdgas forever. In deutschen Heizungskellern ließ man sich von anderswo schmelzenden Gletschern und immer öfter auftretenden Dürren nicht beeindrucken. Erst seit Kurzem werden die Anstupser hartnäckiger, schläft der Riese unruhiger. Seit es die CO2-Abgabe gibt, wissen alle, die eine fossile Heizung kaufen, dass sie während deren Lebensdauer mit deutlichen Kostensteigerungen rechnen müssen. Die Preise für fossile Energieträger zogen schon 2021 merklich an. 

Doch der große Knall kam erst am 24. Februar 2022, als russische Soldaten in die Ukraine eindrangen. Nun ist der Riese wach. Täglich schrillen die Nachrichten wie Sirenen in seinen Ohren: Russland liefert kaum noch Gas! Die Flüsse fallen trocken und Kraftwerke müssen gedrosselt werden! Die Ernte verdorrt auf den Feldern! Die Lebensmittelpreise steigen! Klima- und Energiekrise treffen zusammen – nicht irgendwo auf der Welt, sondern genau hier, mitten in Europa, mitten in Deutschland.

Auch Deutschlands Stromversorgung ist noch lange nicht ganz grün. Im Gegensatz zur Wärme stammt aber ungefähr die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Quellen, 2030 sollen es 80 Prozent sein. Wind- und Solarstrom gehören mittlerweile zu den günstigsten Energiequellen in Deutschland. Sie sind zudem die einzigen, die nahezu unbegrenzt und lokal erzeugt werden können, und müssen schnell zur Grundlage unserer Energieversorgung werden.

Die Grenzen der All-Electric World

Ab 2024 müssen neue Heizungen zu 65 Prozent erneuerbare Energien nutzen. Am einfachsten geht das mit einer Wärmepumpe, die aus einer Kilowattstunde Ökostrom etwa drei Kilowattstunden Wärme macht. Schon 2020 wurde jedes zweite neu gebaute Haus mit einer Wärmepumpe ausgestattet. Doch vor allem in eng bebauten Städten stoßen sie an Grenzen. Wo sich Haus an Haus drängt und es schon kaum Platz gibt, um eine Mülltonne aufzustellen, ist es schwer, einen Ort für die Außeneinheiten von Luftwärmepumpen oder eine Fläche für Erdwärmetauscher zu finden. Wo alle gleichzeitig heizen wollen, laufen die Stromleitungen heiß. Und wo die Häuser nicht gedämmt sind und die Heizkörper hohe Temperaturen benötigen, sinkt die Effizienz der Wärmepumpe. „Die Elektrifizierung der Wärme ist an vielen Stellen eine gute Sache. Sie hat aber Grenzen. Eine All-Electric World, wie sie manche Szenarien beschwören, ist nicht die Lösung. Und auch Dämmen ist kein Allheilmittel. Was wir brauchen, ist ein intelligenter Mix“, sagt GP JOULE-Mitgründer und Geschäftsführer Ove Petersen. Die Energieformen Strom, Wärme und Gas haben alle spezifische Stärken und Schwächen, die einander ergänzen können. „In den meisten Ballungsgebieten und auch in einigen ländlichen Kommunen sind Wärmenetze der schnellste, effektivste und ressourcenschonendste Weg zur Wärmewende“, sagt Petersen.

Wärmenetze verbinden die Sektoren

Ein großer Vorteil von Wärmenetzen ist, dass sie Wärme aus verschiedensten Quellen an unterschiedlichen Standorten einsammeln können. Sie bringen sie dorthin, wo sie gebraucht wird. Das kann zum Beispiel Abwärme aus der Industrie sein, die viele Betriebe noch immer in die Luft oder in Gewässer abgeben. Auch Rechenzentren setzen ihren immensen Energieverbrauch praktisch komplett in Wärme um. Diese loszuwerden, verschlingt zusätzliche Energie für die Kühlung.

Hinzu kommen die neuen Technologien der Sektorkopplung. Je nachdem wie hoch gerade die Ökostromerzeugung und der Verbrauch sind, kann dabei die Priorisierung der Wärmequellen wechseln. Wo mit Ökostrom per Elektrolyse grüner Wasserstoff erzeugt wird, fällt auch Wärme an. Und wo aus diesem Wasserstoff in einer Brennstoffzelle wieder Strom wird, gibt es: Wärme. Umgekehrt können elektrische Wärmepumpen Energie in das Netz speisen, wenn gerade reichlich Strom verfügbar ist. Ein Vorteil solcher Großwärmepumpen ist, dass sie nicht nur auf die Umgebungsluft als Wärmequelle angewiesen sind, sondern auch dort installiert werden können, wo Niedertemperaturwärme in großen Mengen verfügbar ist – an Abwasserkanälen zum Beispiel oder an einer Kläranlage. Und wenn es darum geht, bei starkem Wind schnell Energie aus dem Stromnetz zu ziehen und sinnvoll zu nutzen, wandeln elektrische Heizlanzen den Strom direkt in Fernwärme um. Ein weiterer Vorteil: Zentrale Wärmepumpen laufen „stromgeführt“. Das heißt, wenn der Strom günstig ist, wird die Wärmepumpe zugeschaltet und die Wärme zwischengespeichert. Sie haben deshalb einen großen Wärmespeicher. Die meisten Wärmepumpen in Einfamilienhäusern werden hingegen wärmegeführt betrieben. Sie besitzen keinen großen Speicher und ihre Kapazität ist meistens nicht dafür ausgelegt, sich dem Strommarkt anzupassen. Deshalb müssen sie auch dann laufen, wenn der Strom teuer ist. Wenige zentrale Wärmeerzeuger brauchen in der Herstellung außerdem weniger Ressourcen, Energie und Fachkräfte als eine Vielzahl kleiner Einzelerzeuger – alles knappe Faktoren in der Energiewende. 

Wärmenetze haben nur einen Haken: Ihr Bau ist aufwändig. Kilometerlange Leitungen müssen verlegt, Straßen aufgegraben werden. Doch ist das einmal geschafft, eröffnen sie eine Vielzahl von Möglichkeiten. 

Dänemark macht es vor

Dass ein solcher Umbau in kurzer Zeit möglich ist, zeigt Dänemark. Dort hat man im Gegensatz zu Deutschland schon die Ölkrisen in den 1970er und 1980er Jahren zum Anlass genommen, um eine langfristige Strategie für eine unabhängige und nachhaltige Energieversorgung zu entwickeln. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist eine Säule davon, Effizienz und Systemintegration die beiden anderen. Praktisch führte das nicht nur zu einem massiven Ausbau der Windenergie, sondern auch der Fernwärmenetze. In den 1980ern verlegte Dänemark im Eiltempo neue Leitungen, mittlerweile sind Wärmenetze die dominierende Art der Raumheizung in Dänemark. Die Wärme in den Netzen kommt zu einem wesentlichen Teil aus dezentralen Heizkraftwerken, betrieben mit Erdgas, Biomasse und Abfällen. Flexibilität war dabei von Anfang an ein wesentlicher Aspekt. Heizkraftwerke in Deutschland sind oft große Kohlemeiler. Sie arbeiten rund um die Uhr, auch wenn gerade niemand den Strom haben will. Die Anlagen in Dänemark waren hingegen schon früh so ausgelegt, dass sie ihre Stromerzeugung dem Bedarf anpassen konnten. Die Wärme wird in großen Tanks zwischengespeichert. 

So aufgestellt, können die dänischen Wärmenetze gut auf sich wandelnde Bedingungen reagieren. Der Anteil von Windstrom in Dänemark stieg – die Blockheizkraftwerke drosselten ihren Betrieb. Das Land setzte sich Klimaziele riesige Felder von Sonnenkollektoren erzeugen Wärme und speisen sie in die Leitungen. Der Windstromanteil stieg weiter und erste Großwärmepumpen kamen auf den Markt – sie wandeln den Windstrom in Wärme um. „Im Aufbau waren die Wärmenetze teurer. Aber die Dänen haben auf Versorgungssicherheit gesetzt und diese erhalten. Sie haben sich mit den Wärmenetzen eine unglaubliche Unabhängigkeit von einer einzelnen Wärmequelle geschaffen, die heute unbezahlbar ist“, bilanziert Petersen. „Das sollte auch bei uns viel stärker im Fokus stehen.“

Während die Dänen also zentral reagieren können, muss die Bundesregierung ständig versuchen, Millionen von Privatleuten und Unternehmen mit einem Geflecht von Zuschüssen, Überzeugungsarbeit und Vorschriften dazu zu bewegen, auf klimafreundlichere Energieträger zu setzen. Und weil sich die vielen dezentralen Gasheizungen nicht in wenigen Monaten umrüsten lassen und die Brennstoffkosten steigen, fragen sich nun Millionen von Menschen, wie sie diesen Winter ihre Heizkosten bezahlen sollen. 

Wärme speichern kostet wenig

Eine sichere Energieversorgung braucht Speicher – und auch hier punkten Wärmenetze. Knappe und ökologisch bedenkliche Materialien wie Lithium oder seltene Erden braucht man für die Speicherung von Wärme nämlich nicht. Das Speichermedium Wasser kostet fast nichts, ist ungiftig und in Mitteleuropa fast überall verfügbar. Ein Kubikmeter Wasser, den man von 30 auf 60 °C erwärmt, nimmt dabei knapp 35 Kilowattstunden thermische Energie auf. 

Auch hier sind die dänischen Netze Vorbilder. Sie speichern die Wärme in riesigen Wasserbecken im Erdreich. Das größte von ihnen in der Kommune Vojens fasst 210.000 m3 Wasser. Will man das Konzept auf Städte übertragen, braucht es einige Anpassungen, denn dort ist der Platz meist knapp. Doch es gibt Alternativen. Eisspeicher nutzen die große Energiemenge, die Wasser beim Auftauen aufnimmt und beim Gefrieren wieder freigibt. Wärmepumpen bringen die Energie auf ein nutzbares Temperaturniveau. Sie sind schon in verschiedenen Projekten im Einsatz. Aquiferspeicher nutzen hingegen unterirdische natürliche Wasserreservoirs. Diese Technik soll in Hamburg erprobt werden. Und ein österreichisches Forschungsprojekt arbeitet an riesigen Wasserspeichern, auf deren Oberfläche Parks oder Teiche entstehen können. So lassen sich auch bei wenig Platz große Energiemengen speichern. 

Die Speicher machen die Energie nicht nur stetig verfügbar, sondern auch billiger. Da sie bei hohen Verbräuchen zusätzlich zu den eigentlichen Erzeugern Wärme bereitstellen, können Wärmepumpe, Solarkollektoren & Co kleiner ausfallen. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass verfügbare Wärme immer aufgenommen werden kann. So geht nichts verloren. 

Schnell handeln und Emissionen senken

Weil Wärmenetze ein so essenzieller Baustein der Energiewende sind, waren sie von Anfang an auch Bestandteil der Strategie von GP JOULE. Rund 70 Mitarbeitende kümmern sich mittlerweile um Planung, Finanzierung, Bau und Betrieb der Erzeugungsanlagen und Netze. Oft geschieht das in einer Betreibergesellschaft, an der neben GP JOULE auch die Kommune beteiligt ist. Das Interesse ist groß – bei neuen ebenso wie bei alten Kunden. „Wenn erst einmal der Anfang gemacht ist, kommen meist schnell die Anfragen nach einer Erweiterung“, sagt Petersen.

Umso besser ist es, dass auf Wind und Sonnenenergie auch in der Energiekrise Verlass ist. „Flächen haben wir reichlich“, sagt Petersen. Nun muss es schnell vorangehen. Damit das gelingt, braucht es politischen Willen, Projekte umzusetzen, und Unterstützung beim Aufbau lokaler Wertschöpfungsketten. „Der CO2-Fußabdruck von Wind- und Solarenergie ist heute schon klein. Bisher sind wir aber stark abhängig von China. Mit einer starken europäischen Solar- und Windindustrie können wir wirklich klimaneutral und unabhängig werden“, sagt Petersen. Viel Zeit dafür bleibt nach dem langen Winterschlaf nicht mehr.