Wirklich radikal?

Wirklich radikal?

DAS GP JOULE-MAGAZIN NR. 14 / JUNI 2023

Ist es radikal, sich mit der Hand auf der Straße festzukleben oder Tomatensuppe auf ein Gemälde hinter Glas zu werfen? Heinrich Gärtner, Mitgründer und CTO von GP JOULE, geht dieser Frage nach.

Neulich brachte ein Kollege recht deutlich auf den Punkt, um was es bei der Diskussion um „Klima-Kleber“ und Umweltaktivisten eigentlich geht: um eine Verschiebung der Wahrnehmung. Schließlich sei nicht die Forderung nach Veränderung radikal, sondern vielmehr das Festhalten am Status quo.

Hat er recht? Die Veränderung ist das Gebot der Stunde! Wir müssen jetzt reagieren und die wesentlichen Grundlagen unseres Seins und Habens auf neue Beine stellen. Wir dürfen unseren Planeten nicht weiter so ausbeuten, wie wir das in den vergangenen 100 Jahren getan haben. Aber ist das Agieren der Aktivisten deshalb als nicht radikal einzuordnen? Wenn sich Menschen auf vielbefahrenen Straßen festkleben und schwere Verletzungen riskieren?

Deutschland, Europa, die Weltgemeinschaft sind sich längst im Klaren, dass wir handeln müssen. Jedoch: Es tut sich wenig. Stattdessen werden medienwirksam jene Aktivisten, die auf den Missstand hinweisen, dass der Staat seine selbst gesteckten Klimaziele nicht einhält, von vielen Politikerinnen und Politikern stigmatisiert, fast schon dämonisiert. Warum? Um ihre eigene Untätigkeit zu vertuschen? Um vom Festhalten an fossilen Brennstoffen abzulenken? Um die Schere zwischen dem propagierten zügigen Ausbau erneuerbarer Energien und der zeitraubenden Bürokratie dahinter zu übertünchen?

„Radikal“ sind die Inaktivisten

Die Verteufelung einer unangenehmen Form des gesellschaftlichen Protests ist natürlich einfacher, als sich der Verantwortung und dem eigenen Versagen zu stellen. Dieser Mechanismus ist nicht neu. Vielen Bewegungen ist es ähnlich ergangen. Sie wurden als Radikale abgestempelt, als Nestbeschmutzer diffamiert und dem Verfassungsschutz vorgestellt. Doch Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang machte bereits deutlich, dass die „Letzte Generation“ keine terroristische Vereinigung, dass sie nicht extremistisch ist.

So muss im Duktus der selbsternannten „Bewahrer“ von Recht und Ordnung also die Frage erlaubt sein: Wie radikal ist es, Menschen für Aktionen wie die eingangs erwähnten wochenlang in Gewahrsam zu nehmen und sie als Terroristen zu bezeichnen? Denn sie kämpfen eben nicht gegen die Gesellschaft, wie es Terroristen tun. Sie kämpfen für das Leben. Genauer: für ein Überleben. Manch einem mag das befremdlich anmuten. Es ist jedoch legitim. Zumal weder Menschen angegriffen noch Kunstwerke tatsächlich beschädigt wurden.

Das Aufhalten der Klimakatastrophe sollte eigentlich das Bestreben aller Menschen sein. Und wer sich in Zeiten wie diesen über die Boten der schlechten Nachricht, über die Mahnerinnen und Warner, hinwegsetzt und möglichst nichts verändern will, der also ist ein Inaktivist und selbst eine große Gefahr für uns alle.

Zustimmen allein reicht nicht Klimaaktivisten, organisiert in verschiedenen Gruppen, von lokal bis weltweit agierend, haben mit verhältnismäßig wenig Budget und Aufwand in kürzester Zeit viel erreicht. Sie haben sich mit einer derartigen Vehemenz in die Öffentlichkeit gedrängt, dass so mancher Politiker vermutlich vor Neid erblasst. Sie setzen einen Protest auf konsequente Weise fort, den Fridays for Future vor einigen Jahren in Gang gesetzt hat, der nun aber auf weitestgehend wohlwollende Zustimmung trifft. Und damit seinen wirkmächtigsten Hebel verloren hat: die öffentliche Empörung. Kaum einer mag sich noch über gelegentlich streikende Schüler aufregen.

Wenn wir aber alle nur zustimmend nicken – weil sie ja recht haben, die jungen Leute – und dann doch einfach so weitermachen wie bisher, dann braucht es eben erneute Aufregung, um überhaupt Aufmerksamkeit zu erregen. Es bleibt schlicht kein anderes Mittel übrig, um das Leben der Bürgerinnen und Bürger aus dem Takt zu bringen und sich Gehör zu verschaffen.

Wer das nicht glauben kann, der möge sich in Erinnerung rufen, dass wir von der Bedrohung des menschengemachten Klimawandels bereits seit Mitte der siebziger Jahre wissen. Seitdem versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ebenso hartnäckig wie folgenlos, uns – also Gesellschaft, Wirtschaft, Politik – aufzurütteln. Wach sind wir ja. Aber bewegen wir uns auch? In der notwendigen Geschwindigkeit?

Wer nicht hören will, muss zahlen

Inzwischen spüren Menschen und Unternehmen, dass es ihnen an den Geldbeutel geht oder schlimmer. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat unsere Abhängigkeit von fossilen Energiequellen aus anderen Ländern überdeutlich gemacht. Eine erste Vorschau auf Auswirkungen der Klimakatastrophe hierzulande haben das Hochwasser im Ahrtal im Westen Deutschlands, Ernteausfälle durch Trockenheit im Süden und Osten und ein ansteigender Meeresspiegel im Norden in den letzten Jahren bereits bewiesen.

Doch wo bleibt die Empörung über fehlende Strategien der Politik? Sie schlummert sanft unter Energiepreisdeckeln. Viel Geld muss fließen, damit die Gesellschaft unbeirrt leben und wirtschaften kann – so wie bisher. Der gleiche Effekt ließe sich auch erreichen, wenn wir unsere Versorgung mit Strom, Wärme, Mobilität auf erneuerbar umstellten. Mit dem gleichen finanziellen und legislativen Aufwand, mit dem wir bisher fossile Brennstoffe und Kraftwerke subventioniert haben, wäre das schnell erreicht.

Und schließlich arbeiten bereits viele Unternehmen, Sektoren und Kommunen zunehmend an ihrem ökologischem Fußabdruck. Das zeigen Firmen wie Airbus Helicopters, die mit GP JOULE einen Direktliefervertrag abgeschlossen haben und nun klimaneutralen Strom aus einem nahegelegenen Photovoltaik-Park beziehen. Und das zeigen die Kommunen, von denen viele derzeit dabei sind, ein eigenes Nahwärmenetz aufzubauen. Menschlicher und unternehmerischer Wille lockert politische Korsette dort, wo wissenschaftliche Warnungen bisher von lobbyierenden Kräften übertönt wurden. Jede Form der Willensäußerung, sei sie laut oder leise, klebend oder demonstrierend, ist daher als legitime Art der Auseinandersetzung anzusehen.

Wir sind an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt. Vielleicht werden die „Klima-Kleber“ in den zukünftigen Geschichtsbüchern als entscheidender Funke für die Klimawende eingehen. Wer weiß? Lassen wir ihnen zumindest die Möglichkeit dazu. Denn sie treibt nicht der Hass an, sondern das einzig Wichtige in diesen Zeiten: die Rettung des Planeten. Und die braucht radikale Veränderung.

„Radikal“ ist übrigens kein Schimpfwort. Es bedeutet schlicht, etwas gründlich zu tun, bei der Wurzel anzupacken. Und das ist, wenn es um unsere Lebensgrundlage und die unserer Kinder und Enkelkinder geht, ein durchaus probates Mittel. Wenn nicht gar das einzige, das uns noch bleibt.

Heinrich Gärtner

ist Chief Technology Officer (CTO) der GP JOULE Gruppe, mit Schwerpunkten auf Forschung & Entwicklung sowie Internationalisierung. Als Diplom- Agraringenieur betreibt er seinen landwirtschaftlichen Betrieb in Buttenwiesen im Kreis Dillingen a. d. Donau. Dort liegt – neben dem nordfriesischen Reußenköge – der zweite große Firmenstandort von GP JOULE. Heinrich Gärtner ist in verschiedenen Verbänden tätig, unter anderem als Mitglied des Präsidiums im BVES Bundesverband Energiespeicher.