„Energiesysteme mit Zukunft sind dezentral“
Alles auf einen Blick
DAS GP JOULE-MAGAZIN NR. 13 / NOVEMBER 2022
Wo Stromnetze das Nadelöhr des Energietransports bilden, braucht es neue Wege, um Energieerzeuger und -nutzer miteinander zu verbinden. Und eine neue Art, unser Energiesystem zu denken: dezentral, effizient und intelligent. Ove Petersen, Mitgründer und CEO von GP JOULE, erklärt im Interview das Energiesystem mit Zukunft.
Herr Petersen, selbst ein vereinfachtes Bild eines Energie- systems mit Zukunft braucht einen ausfaltbaren Plan, der so groß ist wie eine Landkarte. Warum muss das so kompliziert sein?
Ove Petersen: So kompliziert ist das gar nicht. Es ist nur vernetzt. Strom-, Wärme- und Gasleitungen verbinden die verschiedenen Elemente miteinander. Wir stellen also gegenseitige Abhängigkeiten dar. Zugleich zeigen wir Möglichkeiten, die Effizienz des Gesamtsystems zu erhöhen. Zum Beispiel wurde in den alten, zentralen Kohle- und Kernkraftwerken oft Strom produziert, ohne die Abwärme zu nutzen. Ein großer Teil der Energie ging also völlig unnütz verloren. Energiesysteme mit Zukunft sind dagegen dezentral. Überall dort, wo Wärme anfällt, entstehen lokale Wärmenetze. Sie bringen die Wärme dorthin, wo sie gebraucht wird. Und über die Wasserstofferzeugung und -einspeisung ist das Stromnetz auch mit dem Gasnetz verbunden.
Sie sagen „Energiesysteme mit Zukunft“. Warum der Plural?
Wir wollen deutlich machen, dass sich ein Energiesystem mit Zukunft immer weiter entwickeln muss. Es gibt nicht das Energiesystem der Zukunft, das man einmal vollständig durchplant, sondern es kommen immer wieder neue Elemente dazu. Rechenzentren haben wir zum Beispiel in unserem Plan nicht eingezeichnet. Großcomputer brauchen viel Strom und geben viel Wärme ab. Wir wissen, dass es noch viele weitere neue Technologien geben wird – deshalb erheben wir gar nicht den Anspruch, dass unsere Darstellung eines Energiesystems mit Zukunft vollständig wäre. Sie soll vielmehr die Grundlagen erklären. Wichtig ist auch, dass sich ein solches Energiesystem mit Zukunft grundsätzlich auf alle Regionen übertragen lässt. Je nach Bedarf und lokalen Ressourcen werden wir von bestimmten Elementen mehr oder weniger brauchen – aber der Grundgedanke bleibt immer der gleiche.
Nicht jede Komponente im System ist schon jetzt voll etabliert. Mitunter fehlt es an Rohstoffen oder an Zeit für die Umsetzung – man denke nur an den Ausbau der Netze. Wie sieht es zum Beispiel bei der Elektrolyse aus? Immerhin soll Wasserstoff eine entscheidende Rolle spielen.
Es fehlen noch Produktionskapazitäten, aber die Technologie ist da. Rein technisch ist es schnell umsetzbar. An Rohstoffen brauchen wir für die Elektrolyse einige wertvolle Elemente, wie Platin als Katalysator. Das ist momentan recht teuer, aber nicht kritisch. Erstens ist Platin an sich nicht so knapp wie zum Beispiel Lithium, das man für Batterien braucht. Und zweitens kann man gut auf andere Elemente ausweichen, zum Beispiel Gold, die ebenfalls in ausreichender Menge verfügbar sind. Die Ressourcenfrage müssen wir im Blick behalten, auch global. Hier in Deutschland können wir es uns leisten, knappes Lithium für unsere Batterien zu kaufen. Aber wenn wir ausschließlich auf Batterien als Speicher setzen, fehlen die Rohstoffe dafür in anderen Ländern. Um eine Lösung zu finden, die in der ganzen Welt funktioniert, brauchen wir deshalb eine Vielfalt der Technologien.
Sie haben den Plan für die Energiesysteme mit Zukunft auch dem Wirtschafts- und Energie- minister Robert Habeck übergeben. Was wollten Sie ihm damit sagen?
Wir wollten deutlich machen, dass wir dringend schon heute die Sektoren verbinden müssen, auch in Form von dezentraler Wasserstofferzeugung. Der Begriff „Sektorkopplung“ war vor wenigen Jahren in aller Munde. Heute setzt die Regierung fast nur auf Strom und eine All-Electric World.
Dabei haben wir jetzt schon Regionen, die fast doppelt so viel erneuerbare Energien erzeugen, wie sie in Form von Strom brauchen. Weil die Netzkapazität begrenzt ist und auf absehbare Zeit bleiben wird, müssen wir ihn abregeln. In solchen Regionen muss es möglich sein, den Strom in anderen Sektoren zu nutzen, also in Form von Wärme, Mobilität oder Gas. Technisch geht das längst. Wir müssen es endlich auch regulatorisch zulassen.
Was müsste man also tun?
Als Allererstes müssen wir die Barrieren aufheben, die der Kopplung der Sektoren entgegenstehen. Dazu gehören zum Beispiel die Stromnetz-Entgelte für bestimmte Anwendungen. Für Wärmepumpen gelten mittlerweile reduzierte Netzentgelte, weil sie im besten Fall durch ihre Flexibilität die Stromnetze stabilisieren. Das muss für Elektrolyseure genauso gelten. Überhaupt müssen die Stromnetzentgelte dringend reformiert werden. Bisher wird zum Beispiel die Industrie von den Netz- entgelten zu 95 Prozent befreit, wenn sie eine große Menge an Strom konstant abnimmt. Wer sich flexibel und netzdienlich verhält, zahlt im heutigen System mehr – das ist widersinnig. Und dann geht es darum, die dezentralen Elemente intelligent zu verbinden und zu steuern. Die Digitalisierung macht das möglich. Eine Photovoltaik-Anlage, eine Autoflotte mit 100 Fahrzeugen oder eine Reihe kleiner Elektrolyseure können so echte Akteure sein. Und all die Biogas-Anlagen, die es schon gibt, würden in einem intelligenten Energiesystem mit Zukunft gezielt als Stromlückenfüller laufen – nicht mehr als Grundlast wie heute.
Was bedeutet die größere Dezen- tralität eines Energiesystems mit Zukunft für die Netze? Brauchen wir in Zukunft weniger Kabel und Rohre?
Die Netze sind ein begrenzender Faktor für den Transport der Energie – die dezentrale Erzeugung und Nutzung wirkt diesem Engpass entgegen. Es wird oft so getan, als könnte das Stromnetz alle Energie abtransportieren, aber das ist nicht so. Weder ist ein schneller Ausbau in Sicht, noch ist das Netz kostenlos zu haben. Wir müssen Strom mit Wind- und PV-Anlagen dort produzieren, wo er benötigt wird, damit wir Transportkosten vermeiden. Wo das nicht geht, muss gewährleistet werden, dass die Energie anders zum Verbraucher transportiert wird. Da die Stromnetze dafür nicht ausreichen, müssen wir unter anderem die vorhandene Gasinfrastruktur nutzen. Das deutsche Gasnetz kann viel mehr Energie übertragen als das Stromnetz. Es dient zudem als echter Energiespeicher, wenn mal kein Wind weht und die Sonne nicht scheint.
Dringend ausbauen müssen wir hingegen die Wärmenetze. Nur mit ihnen ist es möglich, die Wärmewende zu bewerkstelligen, Großwärmepumpen anzuschließen, Abwärme aus Industrieprozessen sinnvoll zu verteilen und damit eine echte, effiziente Sektorkopplung zu betreiben. Diese Wärmenetze brauchen wir nicht nur in großen Städten wie Hamburg oder Berlin. Ein Beispiel aus meiner Umgebung: Solange nach Nordfriesland noch Heizöl geliefert wird, sollten wir den hiesigen Strom aus den Erneuerbaren auch hier mit Wärmepumpen oder mit Abwärme aus Elektrolyseuren nutzen. Deshalb ist es auch sinnvoll, dass der Elektrolyseur auf derselben Seite des Netzengpasses steht wie die Erzeugungsanlagen.
Was bringt das für diejenigen, die nicht in der Nähe eines Elektrolyseurs leben? Wärme, die vorher nur ein Abfallprodukt war, wird im Energiesystem mit Zukunft genutzt und ist dadurch günstig verfügbar. Das zieht zusätzliche Betriebe an, die diese Wärme brauchen, zum Beispiel Gärtnereien mit Gewächshäusern. Gerade bei den steigenden Energiepreisen heute spielt das eine große Rolle. Wir können diese Betriebe also in Deutschland halten. So etwas funktioniert nicht, wenn der Elektrolyseur in Kanada oder Saudi-Arabien steht.
Schließlich kann es nicht darum gehen, wie auch immer an Wasserstoff zu kommen oder eine einzelne Komponente zu optimieren. Es geht darum, die Effizienz im Gesamtsystem zu erhöhen. Durch den Verkauf des Nebenprodukts Wärme sinken die Kosten für die Wasserstoffbereitstellung, gleiches gilt für Sauerstoff. Von der Nutzung der Wärme profitieren also alle, denn der Wasserstoff wird dann günstiger, wenn man alle Nebenprodukte bestmöglich nutzt. So schaffen wir ein Energiesystem mit Zukunft.