"Die Energiewende ist der größte wirtschaftliche Treiber für unsere Industrie"

DAS GP JOULE-MAGAZIN NR. 16 / APRIL 2025
Die Industrie befindet sich im Umbruch. Ulrich Leidecker erklärt, welche Chancen und Herausforderungen diese Entwicklung mit sich bringt – und warum die Energiewende nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein wirtschaftliches Gebot ist
Herr Leidecker, die Industrie steckt mitten in einem historischen Wandel. Die Stichworte dazu sind: Digitalisierung, Elektrifizierung, Nachhaltigkeit. Phoenix Contact ist mit seinem Angebot Treiber dieser Entwicklung. Gleichzeitig sind Sie auch selbst als Produzent am Produktionsstandort Deutschland tätig. Wie ist Ihr Blick auf die derzeitige Situation?
Ulrich Leidecker: Wir haben mit der All Electric Society das Zukunftsbild einer nachhaltigen, durch erneuerbare Energien elektrifizierten Welt in den Mittelpunkt unseres Geschäftsmodells gestellt, indem wir mit technischen Lösungen dazu beitragen. Wir sind überzeugt, dass die Energiewende der größte wirtschaftliche Treiber für unsere Industrie ist. Wir brauchen Lösungen für das Erzeugen, Transportieren und Speichern regenerativer Energien und müssen dabei so effizient und ressourcenschonend wie möglich umgehen. Die Lösungen im Sinne einer All Electric Society bieten viele Chancen, so dass sich unser Wirtschaftsstandort neu erfinden kann. Wichtig ist jetzt, dass wir die richtigen Weichenstellungen und Impulse aus der Politik bekommen, die gleichermaßen Investitionsstau und Überbürokratisierung entgegenwirken.
Die All Electric Society ist eine große Vision – wie viel Realität steckt heute schon darin? Und welche Schritte braucht es, um diese Zukunft wirklich umzusetzen?
Das Besondere an der All Electric Society ist: Wir brauchen dafür keine fundamental neuen Konzepte. Mit bestehenden Produkten und Lösungen ist heute in unterschiedlichen Sektoren vieles technisch realisierbar. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir mehr Geschwindigkeit bei der Energiewende benötigen. Und niederschwellige Angebote für die Gesellschaft, zum Beispiel beim Ausbau der Elektromobilität und einer bedien- und bezahlbaren Ladeinfrastruktur. Die Politik muss ihren Willen zur Klimaneutralität zeigen. Hier ist noch einiges zu tun. Als Beispiel: Batterien von E-Autos könnten sofort einen bedeutenden Beitrag zur Energiewende leisten. Als flexible Energiespeicher eingesetzt, speichern sie überschüssige Wind- und Solarenergie, speisen diese bei Bedarf wieder ins Netz ein und tragen so zur Netzstabilisierung bei.
Ein weiteres Beispiel ist der Ausbau von Windparks. Zu den Herausforderungen gehören komplexe Genehmigungsverfahren und langwierige bürokratische Prozesse, die die Planung und Umsetzung verzögern. Zudem treten Konflikte um die Flächenbereitstellung auf, die die Errichtung neuer Anlagen erschweren. Die Industrie muss sich ebenfalls mit schwankenden politischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen, die Investitionssicherheit und langfristige Planung beeinträchtigen.
Das Leitbild der All Electric Society (AES) geht davon aus, dass die notwendige Abkehr von fossilen Brennstoffen umso schneller erreicht werden kann, je mehr wir unseren Energiebedarf aus regenerativen Quellen decken - und zwar mit Elektrizität. Immerhin übersteigt die Energie, die mit dem Sonnenlicht auf die Erde trifft, Berechnungen zufolge den gesamten Weltenergiebedarf um den Faktor 10.000. Eine effizientere Energienutzung – durch digitalisierte und vernetzte Prozesse – soll die Elektrifizierung beschleunigen. |
Industrie 4.0 und die Vernetzung sind längst mehr als Schlagworte, trotzdem hakt es an vielen Stellen an der flächendeckenden Umsetzung. Wie kann Phoenix Contact helfen, Digitalisierung nicht nur als IT-Projekt, sondern als echten Effizienztreiber zu begreifen?
Indem wir die Chancen der Digitalisierung zum Erreichen unserer Net-Zero-Ziele ganzheitlich betrachten. Voraussetzung ist die vollständige Elektrifizierung und Vernetzung von Anlagen. Die durch die Digitalisierung erzeugten Daten werden normalisiert, das heißt auf ein einheitliches les- und interpretierbares Format gebracht, das auf offenen Standards basiert. Damit ergeben sich Möglichkeiten, verschiedene Gewerke – beispielsweise die PV-Anlage, den Ladepark für E-Autos und die Erzeugung von Wärme und Kälte im Gebäude – zu koppeln, zu automatisieren und damit zu optimieren.
Auf dem Campus in Blomberg haben wir ein Produktionsgebäude ganzheitlich nachhaltig geplant und gebaut; alle Gewerke sind digital und energetisch miteinander gekoppelt. Das Ergebnis ist ein energiepositives Gebäude, es erzeugt also mehr Energie, als es im Betrieb verbraucht, und das wettbewerbsfähig im globalen Umfeld.
Digitalisierung hilft uns somit bei der Realisierung unserer Net-Zero-Ziele. Auch an anderen Produktionsstandorten, wie zum Beispiel in Bad Pyrmont, setzen wir auf die Sektorenkopplung. Dort haben wir mit der intelligenten Verknüpfung digitalisierter Gewerke unsere direkten CO2-Emissionen um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr reduziert und dabei fast 10 Prozent Strom gespart.
Im All Electric Society Park in Blomberg können Interessierte sich das live anschauen. Der Park ist ein Reallabor, in dem sehr anschaulich die Möglichkeiten beim Einsatz unserer Technologien für eine nachhaltige Welt zu besichtigen sind. Der Park ist täglich für Besuchende frei zugänglich geöffnet.
Der All Electric Society Park in Blomberg ist täglich für Besucher geöffnet. Infos unter phoe.co/AES-Park.
Die patentierte Trailersteuerung HY.RUNNER von GP JOULE macht den Wasserstofftransport sicher, flexibel und effizient – auch dank der Komponenten von Phoenix Contact. Welche technischen und wirtschaftlichen Hürden müssen noch überwunden werden, damit solche Projekte und die Nutzung von grünem Wasserstoff massentauglich werden?
Die Herausforderungen liegen aus meiner Sicht aktuell eher auf der wirtschaftlichen und politischen als auf der technischen Seite. Die technischen Anforderungen bekommt man meist sehr gut in den Griff. Was derzeit den Markthochlauf eher bremst, ist ein klassisches Henne-Ei-Problem: ohne Abnehmer kein Angebot, ohne Angebot aber auch keine Abnehmer. Es braucht Impulse aus Wirtschaft und Politik, um die Erzeugungskapazitäten für grünen Wasserstoff, aber vor allem die Abnahmeseite zu entwickeln, damit sich ein erster Markt etablieren kann. Hierzu wird neben flankierenden Förderprogrammen eine gewisse Portion Pragmatismus im Bereich der Zulassung und Genehmigung notwendig sein, solange es hier noch keine einheitlichen Verfahren gibt.
Was ist Ihr kühner Blick in die Zukunft: Welche technologischen oder gesellschaftlichen Umbrüche erwarten Sie in den nächsten zehn Jahren, die die Elektro- und Automatisierungsbranche fundamental verändern werden?
Ich hoffe, dass das Leitbild der All Electric Society in zehn Jahren unser Verständnis der Nutzung von elektrischer und thermischer Energie fundamental verändert haben wird. Dazu sehe ich wenigstens fünf Schlüsselfaktoren, die unsere Branche zukünftig verändern werden:
1. Speichertechnologien sind der Schlüssel einer vollständig regenerativen Energieversorgung. Elektrische Batterien – insbesondere in Fahrzeugen – werden als kurzzyklische Speicher helfen, das elektrische Energienetz zu stabilisieren. Wasserstoff wird die Grundlage für mittel- und langfristige Speicher bilden.
2. Effizienz und Nachhaltigkeit sind auch zukünftig Schlüsselthemen für Produkte und Produktionsanlagen. Wir benötigen mehr kreislauftaugliche Produkte auf der einen Seite und mehr Vernetzung- und Cloudlösungen zur Optimierung von Fertigungsanlagen auf der anderen. Künstliche Intelligenz wird an dieser Stelle zum alltäglichen Werkzeug. Dazu sind robuste und ganzheitliche Security-Lösungen zwingend erforderlich.
3. Dezentrale Anlagen werden eine noch größere Rolle spielen, zum Beispiel PV oder Windparks. Dafür braucht es einfache und effiziente Möglichkeiten zur Fernüberwachung sowie zur Anlagen- und Systemsimulation. Virtuelle Steuerungssysteme werden hier verstärkt zum Einsatz kommen.
4. Automatisierungssysteme der Zukunft müssen möglichst anpassungsfähig sein, um den immer schneller werdenden Veränderungen der Welt standzuhalten. Dafür braucht es flexible und vor allem offene Steuerungslösungen.
5. Und zuletzt werden strategische Partnerschaften und Allianzen dabei helfen, die immer größer werdende Komplexität von technischen Lösungen zu meistern. Dem Klimawandel können wir nur dann begegnen, wenn wir gemeinsam an den innovativsten und zukunftssichersten Lösungen arbeiten.
Ulrich Leidecker
Ulrich Leidecker ist COO, Spokesman of the Executive Board und President Business Area Industry Management and Automation. Zusätzlich verantwortet er die Unternehmensbereiche Einkauf und Logistik sowie die Tochtergesellschaften in den USA. Phoenix Contact ist weltweiter Marktführer für Komponenten, Systeme und Lösungen im Bereich der Elektrotechnik, Elektronik und Automation und beschäftigt heute rund 22.000 Mitarbeitende weltweit. 2022 wurde ein Umsatz von 3,6 Milliarden Euro erwirtschaftet.
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